Aktives und passives Wissen und wie es mich zum Grübeln bringt
In meinem Leben gibt es immer wieder Momente, wo ich mit dem Unterschied zwischen aktivem und passivem Wissen konfrontiert wurde.
Früher, in einem gefühlt anderen Leben, habe ich viele Jahre lang einen Kurs an der Volkshochschule unterrichtet. Die Geschichte der Kunst – von der Höhlenmalerei bis in die Gegenwart. Dabei habe ich einiges von dem Wissen aus meinem Studium eingebaut (ich habe ja unter anderem Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Mittelalterliche Geschichte studiert) aber den Schwerpunkt im jeweiligen Zeitalter immer auf die Sachen gelegt, die ich besonders spannend fand. Der Kurs war immens beliebt und hat mir und offensichtlich auch den Teilnehmenden immer viel Spaß gemacht. Im allerersten Kurs anno 2003, dachte ich, dass es eine total tolle Idee ist, am Ende von dem 12 Wochen dauernden Kurs eine kleine Abfrage zu machen, die etwas aus jeder Stunde aufnimmt.
Leichte Fragen, die aber zeigen sollten, was man so alles gelernt hatte. Wie gesagt, ich fand die Idee super und hatte viel Freude mein kleines Quiz vorzubereiten. Es wurde ein DinA4 Blatt mit 13 einfachen Fragen. Ich freute mich diebisch auf die vielen WOW-Momente der Teilnehmenden, wenn sie merken würden, was sie nun alles wissen. Sehr viel weniger begeistert, waren besagte Teilnehmende. Die Mehrzahl maulte, man sei doch nicht in der Schule. Einige hatten Angst sich zu blamieren und ihnen fiel siedend heiß ein, dass sie ja einen wichtigen Zahnarzttermin in der letzten Stunde des Kurses hatten und wieder andere hatten die Vision, wie ich vor versammelter Mannschaft veröffentlichen würde, wer welche Wissenslücken hatte – unterlegt mit einem hämischen Lachen. Ich kann gar nicht hämisch Lachen, das nur am Rande. Gestresst waren aber irgendwie alle, außer mir. Wohlgemerkt der Test war nur für sie, wurde nicht benotet oder so. Es gab die Option mir das Ganze ausgefüllt zu geben und ich würde es dann korrigieren, sie hätten es aber auch einfach behalten können. Und es war nie die Rede davon, dass ich irgendwas davon veröffentliche. Verständlicherweise habe ich dann Abstand von der Idee genommen. Eine Lehrerin, die in diesem ersten Kurs war, sagte dann zu mir, das ist halt das Problem mit aktivem und passivem Wissen. Im Prinzip wäre es zu einem großen Wissenszugewinn durch den Kurs gekommen, aber es ist nicht unbedingt abrufbar. Und das ist auch genau die Art, wie sich die Teilnehmenden den Zuwachs von Wissen wünschten. Entspannt lernen ohne wahrzunehmen, dass man lernt. Das konnte ich verstehen und so habe ich das Quiz in Papierform gestrichen. Die Fragen, die ich Fuchs dann alle aber bei der erzählten Zusammenfassung des Semesters einfliessen liess, konnten alle locker beantworten. Gesprochen ist das offensichtlich auch nicht so schlimm, wie geschrieben.
Eine zweite Anekdote aus diesem Kurs fand einige Jahre später statt. Ich hatte gerade mit der, wie ich finde fantastischen Shardlake-Serie von Christopher J. Sansom angefangen, die ich jedem ans Herz legen möchte, der historische Krimis mag. Die Handlung spielt im frühen 16. Jahrhundert im England unter Heinrich VIII.. Als ich irgendwann Hans Holbein durchnahm und auch auf das Porträt von besagtem Herrscher zu sprechen kam und das Porträt von Thomas Cromwell konnten die Menschen im Kurs, die die Krimis gelesen hatten ohne Fehler alle Frauen von Heinrich VIII in der richtigen Reihenfolge aufzählen und auch noch sagen, welche wie aus der Ehe entlassen wurde – also durch Annullierung, ohne Kopf etc. Als ich beeindruckt darauf hinwies, wie viel sie offensichtlich aus den Büchern gelernt haben, waren alle ganz erstaunt, weil sie sich nicht bewusst die Fakten eingebläut hatten. Das war mein erstes bewusstes Verstehen, dass Storytelling nicht nur ein netter Zeitvertreib ist, sondern auch wirklich gut ist für Wissensvermittlung und sehr gut ist für aktives Wissen.
Warum erzähle ich das hier? Ich finde es sehr faszinierend, wie in jedem Menschen ein unterschiedliches Mischungsverhältnis aus aktivem und passivem Wissen zu finden ist. Und frage mich, wie ich damit umgehe und ob bestimmte Fähigkeiten des Merkens und Speicherns vielleicht auch damit einher gehen, wie man früher gelernt hat? Ich habe einige Freunde, die in Bayern Abi gemacht haben und die haben, verdammt nochmal, eine bessere Allgemeinbildung, auch heute noch habe ich das Gefühl, dass sie neues Wissen schneller verinnerlichen. Ich mit meinem oft belächelten NRW-Abi habe das alles erst sehr viel später für mich entdeckt und gelernt.
Wenn ich nun weiter überlege, frage ich mich, wie viel aktives und wie viel passives Wissen habe ich wohl und wie werde ich mir dessen bewusst? Geht das überhaupt? Und was ist der Auslöser aus aktivem Wissen passives zu machen? Etwa die Zeitspanne der Nichtnutzung? Was wusste ich früher und weiß es heute nicht mehr? Dagegen spricht aber, dass ich immer noch Roger Whittaker Texte aus meiner Kindheit kenne, die ich im Radio hören musste. Und wieviel Mühe würde es kosten passives Wissen wieder zu aktivem zu machen? Und wenn ich schon mal dabei bin Musik als Beispiel zu nennen, warum kann ich mir Liedertexte von richtig übler Musik merken, Musik, die ich hasse und ganz bestimmt nicht aktiv höre, aber mal nicht drum herum gekommen bin, sie zu hören. Dagegen vergesse ich wichtige steuerrechtliche, datenschutzrelevante Fakten oder die Lage der Länder in Südamerika oder andere geographische Infos sofort wieder. Ich bin mir selbst ein Rätsel.
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