“Der einfache Mensch wundert sich über Komplexes, der weise Mensch wundert sich über Einfaches.” Jedenfalls sinngemäß habe ich dieses Bonmot mal irgendwo gelesen. Natürlich gilt längst nicht, dass alles Einfache wundervoll ist – es ist zunächst einmal nur einfach. Je nach Ebene und Perspektive gehört Komplexität dazu. Daher ist Einfaches manchmal überraschend: Die Erfahrung lehrt, dass das Einfache oft nur oberflächlich einfach ist.
Während des Studiums hatte ich unter anderem auch Vorlesungen in Bioklimatologie – bei Professor Gravenhorst. Ein freundlicher Mensch, der neben seiner Eigenschaft als Professor auch Frauenbeauftragter der Fakultät war. Prof. Gravenhorst begann seine Vorlesung immer mit einer großen Satellitenaufnahme Europas und machte anhand der Karte eine Wettervorhersage und erklärte bei dieser Gelegenheit auch das eine oder andere meteorologische Phänomen. Es kam ihm vor allem darauf an, Mechanismen und Zusammenhänge zu erklären, einen Blick für das Große und Ganze zu vermitteln. Er betonte stets, dass das Klima nur ein Bestandteil der Biosphäre ist. Da er sich auch dadurch von seinen Kollegen abhob, erinnere ich mich auch gut daran, wie er gerne scherzte, dass seine Kollegen der anderen Fachbereiche an der forstlichen Fakultät gerne für sich in Anspruch nähmen, das jeweils wichtigste Fach zu lehren: Bodenkunde, Waldbau, Forstbenutzung… Selbstverständlich würde er das wichtigste Fach lehren, denn ohne Klima gäbe es alles andere ja nicht.
So hätte man über einige Zeit eine angenehme, interessante und leicht verständliche Vorlesung genießen können. Doch in den Reihen meiner Mitstudenten begann es zu grummeln. Was das denn überhaupt für eine Vorlesung sei, das wäre ja alles viel zu einfach, Kindergarten, hat der Dozent denn überhaupt Ahnung vom Fach?
Alle waren etwas überrascht, als eines Tages nicht Prof. Gravenhorst zur Vorlesung erschien, sondern ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der diese Aufgabe übernahm. Das Thema waren Strahlenbilanzen, also wie trifft Sonnenstrahlung auf die Erde ein und wie strahlt die Energie wieder ab, wie wird das Ganze beeinflusst und reflektiert mit jeweiligen Wechselwirkungen: Erdoberfläche, Einfallswinkel, Luftfeuchtigkeit/Bewölkung, Wind, Luftschichten, Strömungen, Wasser, Exposition und Höhe. Natürlich ganz konkret und quantifiziert im Detail. Das machte Eindruck! Hektisch versuchte man, die Skizzen der Erdoberfläche mit den Pfeilen und Werten mitzuschreiben. Hatte man vorher noch gespottet oder sich beklagt, war an der Stelle der Häme nun Schock und Entsetzen getreten. Wie sollte man sich auf die Prüfung vorbereiten, wie das alles lernen und/oder verstehen?
Nach einigen dieser Vorlesungen kam Prof. Gravenhorst wieder zurück und fragte (scheinheilig?) wie uns denn die letzten Vorlesungen gefallen hätten. Er erzählte, dass der wissenschaftliche Mitarbeiter ein Klima-Physiker mit Spezialgebiet Strahlenhaushalt sei. Es wäre ihm darum gegangen, zu demonstrieren, wie man die Vorlesung auch halten könne und dass alles eine wissenschaftliche und quantifizierbare Grundlage hätte.
Dieses Erlebnis finde ich nach wie vor sehr interessant. So lange es noch einfach war, wurden das Fach und der Sprecher anscheinend nicht ernst genommen. Umgibt die Wissenschaft der Nimbus der schweren Verständlichkeit? Und braucht Wissenschaft, wenn sie ernst genommen werden will, eine schwerverständliche Sprache?
Im Gegensatz zu dieser anekdotischen Erfahrung steht jedenfalls in der Physik die Stringtheorie. Sie konkurriert mit den Theorien zur Quantengravitation und wird dabei von vielen Forschern momentan favorisiert, weil sie vergleichsweise einfach sein soll.
Die Stringtheorie ist eine alle Naturkräfte vereinheitlichende Theorie, die das Standardmodell der Elementarteilchenphysik und die Gravitation miteinander verbindet. Es muss aber erwähnt werden, dass es auch viele Kritiker der Stringtheorie gibt, die mehr oder weniger der Meinung sind, dass die Suche nach Einfachheit/Schönheit die Physik in eine Sackgasse führt, um es freundlich auszudrücken. Ich kann das allerdings überhaupt nicht beurteilen und habe auch keine Meinung dazu – ich finde es nur bemerkenswert, dass es einige sehr schlaue Menschen gibt, die eine einfachere Lösung dem komplexerem Lösungsansatz nicht nur bevorzugen, sondern dass die Einfachheit und Eleganz auch eine Motivation zu sein scheint. Ich bin jedenfalls gespannt, in welche Richtung die Wissenschaft fortschreitet.
In der Geschichte der Astronomie gab es den Fall, dass sich die Wissenschaft in Richtung einer stark vereinfachenden Theorie bewegte – als man bereit war, Glaubenssätze zu hinterfragen und letztlich auch aufzugeben. Durch Fortschritte in der Optik und damit verbesserten Teleskopen, konnten bekannte Himmelskörper nun besser beobachtet werden und hinzu kamen nun noch einige Objekte, die mit dem bloßen Auge nicht erkennbar waren. Das brachte Forscher mit geozentrischem Weltbild bald in Erklärungsnot. So machte zum Beispiel die Erklärung einiger beobachtbarer Unregelmäßigkeiten diese Theorie sehr kompliziert.
Dank Kopernikus, Kepler und Newton wurde das heliozentrische Modell ausgearbeitet und verbessert. Und nicht zuletzt ermöglichte das heliozentrische Weltbild eine erheblich genauere und einfachere Beschreibung und Vorhersage der Position von Objekten wie Sonne, Planeten oder Sternen.
Diese sogenannte kopernikanische Wende läutete eine Ära ein. Bei der Forschung wollte man nun über den unmittelbaren Augenschein hinausgehen und durch die Kraft der konstruktiven Vernunft zu neuen Erkenntnissen gelangen.
Ich finde interessant, dass sich Einfachheit und Komplexität in der Wissenschaft oft in einem Spannungsfeld bewegen. Komplex fühlt sich oft richtig an. Wenn sich Dinge nicht erschließen oder man sie nicht versteht,dann liegt es vielleicht daran, dass es komplex ist und Wechselwirkungen unterliegt. “Einfach” ist allerdings auch oft ein relativer Begriff, der von Vorkenntnissen und Durchdringung des Fachgebiets abhängt.
Antje
Danke für diesen interessanten Impuls, Marcus! ? Das von dir angesprochene Spannungsfeld zwischen Einfachheit und Komplexität scheint tw. auch kulturell bedingt zu sein. Ich habe den Eindruck, dass es in den USA ein (wenngleich ggf. nur implizit) erklärtes Ziel der Wissenschaften ist, Komplexes anschaulich darzustellen. Dort gibt es eine Vielzahl populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen hochkarätiger Wissenschaftler:innen. In Deutschland, so scheint’s, muss man sich entscheiden: dient man sich dem Mainstream und der Populärkultur an und riskiert damit seinen Ruf oder betreibt man weiter seriöse Wissenschaft und pflegt den Habitus der Abgrenzung?
Mit Corona und Drosten, so mein Eindruck, ist ein bisschen Bewegung in die Sache gekommen… (Ich kann mich aber auch täuschen, ist nur ein Gedanke.)
M4rcu5
Vielen Dank für den Kommentar, Antje!
Den interkulturellen Aspekt finde ich sehr spannend! Da habe ich jetzt noch gar nicht dran gedacht, aber meiner Erfahrung nach kann ich dir da Recht geben. In der Vergangenheit hat mir (Fach-)Literatur aus dem Angelsächsischem schon weitergeholfen, wo ich bei Deutschen Beiträgen Verständnisschwierigkeiten hatte.
Ich glaube auch, was die Aufweichung bei der Polarisierung zwischen Fach- und Populärwissenschafts-Publikum angeht, da könnte an deiner Wahrnehmung was dran sein. Mir kommt es auch so vor, dass es zunehmend Influencer und Formate gibt, die es sich auf der einen Seite zur Aufgabe gemacht haben auch für Fachfremde gutverständlich zu sein, beliebt sind aber trotzdem als wissenschaftlich gelten. Ich denke da beispielsweise an Yogeshwar, Lesch oder auch an Mailab, und es gibt noch mehr.
Das finde ich wirklich super, denn die Wissenschaft hat es erschreckenderweise mehr als nötig, dass sie cool und leicht verständlich vermittelt wird. Für mich war es anfangs überraschend, wieviele wissenschaftsfeindliche Bubbles es gibt, die Wissenschaft als patriarchales Instrument kolonialer Unterdrückung oder als ein soziales Konstrukt oder als Fakenews oder als Verschwörung sehen. Da war man vom Mindset ja vor ein paar Jahrhunderten im Zeitalter der Aufklärung fast noch weiter als heute.
Daher wünsche ich den „Sciencefluencern“ nur das Beste, denn ich fürchte, dass unsere Zukunft davon abhängen könnte, wie man mit der Wissenschaft und deren Erkenntnissen umgeht.
Thilo Krapp
Sehr interessanter Beitrag! Habe eine ähnliche Erfahrung aus Autoren-/Bildautoren-Sicht, bei dem ich Parallelen zu dem Thema sehe: Als ich vor Jahren schon meine Bilderbuchidee „Der Geburtstag“ (jetzt bei Peter Hammer in der Anthologie „Wer tanzt schon gern allein?“ herausgekommen) auf dem Markt vorstellte, in dem ich die Geschichte der Zuneigung zweier Jungs in der ca. 7./8. Klasse thematisiere, die ganz beiläufig und nur wenig spektakulär erzählt wird (und stattdessen als etwas völlig Normales, vor dem man keine Angst haben muss), stieß sie glaube ich deswegen auf Schwierigkeiten, weil sie von vielen als „unterkomplex“ empfunden wurde… also als zu wenig „Drama“ aus dieser Konstellation ziehend. Genau das wollte ich aber nicht, weil ich finde, dass diese Art von Orientierung und Beziehungsmöglichkeit (gerade für Kinder) nicht als „unmöglich“ und „zu schwer“ dargestellt werden sollte!
Ich weiß, hier geht es um Wissenschaft, aber dennoch sehe ich die Parallele, dass etwas, was einfach (und „verständlich“) dargestellt ist, oft als minderwertig empfunden und damit vorverurteilt wird. Und das baut Hindernisse auf, die nicht nötig wären und nur alles aufhalten. Es hat sich aber eher herausgestellt, dass die oben erwähnte Geschichte auf fruchtbaren Boden fällt und eher von einigen mit offenen Armen begrüßt wird (sie gewann dann den GINCO-Award), anstatt als „unmöglich“ bezeichnet und ins Reich der Fiktion verwiesen zu werden. Und das liegt glaube ich gerade daran, dass sie das Thema nicht zu schwer angeht und aufgreift.
Und dennoch gibt es Beispiel, auch bei Geschichten, wo dann auch ich manchmal denke: An der und der Stelle macht es die Geschichte dem Leser/Rezepienten schlichtweg zu einfach… wahrscheinlich kommt es auch darauf an, ob ein Thema geeignet ist, auch einfach und „leicht“ erklärt bzw. erzählt zu werden? Ob es so AUCH möglich ist, den Kern einer Sache zu treffen? Und vielleicht gibt es Themen, wo man doch tiefer und im „Schwierigen“ graben muss, um ihnen gerecht zu werden?
Oder gehe ich mit dieser Richtung zu sehr vom Thema des Beitrags weg?
Jedenfalls ist das mein Eindruck: mit manchen Themen sollte man nicht zu schwer umgehen bzw. sie nicht komplizierter machen, als sie sind.
Welche Themen das aber sind, das ist bestimmt umstritten…
M4rcu5
Hallo Thilo und vielen Dank für deinen Kommentar!
In erster Linie geht es ja wirklich um die Gegensätze einfach und komplex. Und da ist es interessant und erst recht willkommen aus allen möglichen Bereichen Erfahrungen und Einblicke zu bekommen – schon um zu sehen ob es da Parallelen oder auch Gegensätze gibt. Herzlichen Glückwunsch auch zum GINCO-Award, ein schöner Erfolg!
Ohne die von dir genannte Geschichte schon zu kennen, klingt für mich das Einfache und das Beiläufige dieser Erzählung gerade auch in dem Zusammenhang als angenehm unaufgeregt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das zu den Protagonisten und auch zur Geschichte gut passt – ich würde die Geschichte jedenfalls gerne mal lesen.
Verstehe ich das richtig, du hast die Erfahrung gemacht, dass Einfaches und Verständliches geringgeschätzt wird? Das finde ich spannend, das passt ja zu meiner Erfahrung mit der Vorlesung. Da würde mich jedenfalls interessieren, was du für Erfahrungen gemacht hast, anscheinend bekommst du Feedback zu deinen Geschichten?
Der Punkt mit dem „zu einfach“ ist auch interessant – ich frage mich, ob das in der Wissenschaft auch ginge. Spontan würde ich sagen, solange klar gemacht wird, dass es sich um eine Vereinfachung handelt, wäre man wissenschaftlich auf der sicheren Seite. Das Modell dient dazu, dass man sich ein Bild und eine Vorstellung von der Realität machen kann, aber das Modell ist auch nicht die Wirklichkeit. Die Parallele wäre hier, dass ein zu einfaches Modell den Zusammenhängen nicht gerecht wird – so wie Themen die mehr Komplexität und Tiefgang erfordern um daraus eine gute Geschichte zu machen.
Welche konkreten literarischen oder wissenschaftlichen Themen das sind, da bin ich mit dir einer Meinung, das ist bestimmt Ansichtssache.
Thilo Krapp
Hallo Markus,
ja, die Erfahrung, dass manches beim Geschichten-Schreiben, was (bewusst, meistens, vom Autor), „einfach“ behandelt wird, sich schnell den Vorwurf des Nicht-Stichhaltig-Seins gefallen lassen muss.
Bei der hier angesprochenen Geschichte kam der Vorwurf (bei der Suche nach einem potentiellen Partner im Vertrieb) in Hinsicht auf den Punkt Liebe/Gefühl. Dass ein ganz ganz junger Mensch das quasi noch nicht empfinden könne.
Ich fand aber immer: die Darstellung des Verliebt-Seins für Kinder zu verklausuliert und kompliziert darzustellen, geht an einer realen Beschreibung dieses Zustands vorbei.
Andere Zustände mögen notwendig sein, tiefer zu beschreiben. Aber dieses erste, aufkeimende Gefühl? Etwas so vages und gleichzeitig eindeutiges?
Ich schicke euch die Geschichte bei Gelegenheit mal, dann versteht man vielleicht besser, in welchen Bezug ich das zu dem Thema hier setzen wollte 🙂
Liebe Grüße,
Thilo