Anstand ist ein interessanter Begriff, weil das Wort vielleicht nicht mehr ganz so gebräuchlich ist, wie es das schon mal war und möglicherweise deswegen jeder nur eine ungefähre Ahnung hat, was darunter zu verstehen ist. Spannend finde ich es schon deswegen, weil man sich zu der niemals unmodern werdenden Frage, wie wir als Gesellschaft zusammen leben wollen, einiges austauschen und diskutieren kann. Axel Hacke hat dazu ein kleines und fesselndes Buch geschrieben.

Ich nenne es deswegen ein kleines Buch, weil es das Format eines Taschenbuchs hat, beim Nachsehen stelle ich aber fest, dass es doch immerhin knapp 200 Seiten hat. Es hat den Titel “Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen” und wurde 2017 veröffentlicht. Und zwar vom Kolumnisten Axel Hacke, einem Menschen den ich sehr schätze weil er wirklich spannend schreiben und erzählen kann.

Wenn ich mir jetzt überlege, wie man ein Buch über das Thema “Anstand” möglichst schlecht und unsympathisch schriebe, dann wahrscheinlich so, dass man sich selbst als Maßstab für Anstand nimmt und das Thema unter dem Motto “damals™ war alles besser, und die Jugend heutzutage ist so (hier negative Eigenschaft einfügen)” behandelt. Genauso macht es Axel Hacke zum Glück nicht. Nicht nur macht es das Buch so um Längen sympathischer, sondern eröffnet gleich den Zugang für alle, die das Thema interessiert. Er nähert sich dem Thema zwar persönlich, aber anekdotisch: Hacke macht also das, was er besonders gut kann und erzählt Geschichten.

Geschichten, die ihm im Zusammenhang mit dem Begriff Anstand in den Sinn kommen. Das lädt dazu ein, zu reflektieren und sich selbst einmal Gedanken darüber zu machen, was man selbst mit dem Begriff verbindet. Das stellt schon einmal einen Bezug zum Thema mit dem Leser her und so kommt man gut rein.

Selbstverständlich nimmt sich Hacke das Thema aber gründlicher vor und stellt beispielsweise, für mich bedrückend, historische Bezüge her. So beschreibt er mit Hilfe von Berichten von Zeitzeugen, wie es kurz vor dem zweiten Weltkrieg war: Nämlich dass der Anstand selten wurde in der Gesellschaft. Die dünne Decke der Zivilisation brach immer öfter auf – unwidersprochen und ohne größere Proteste. Daraus formuliert er die Frage und Befürchtung, ob uns gegenwärtig vielleicht auch wieder eine schwierige Zeit bevorsteht. Um diese These zu begründen, schildert Hacke Beobachtungen aus der jüngeren Vergangenheit und meiner Meinung nach sind das Beispiele, die einen zumindest nachdenklich machen.

So wird das Thema Anstand aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet, etwa philosophisch oder politisch oder aus anderen weiteren Blickwinkeln.
Wer Axel Hacke kennt und mag, wer gerne über einen Aspekt aus verschiedenen Gesichtspunkten nachdenkt und dabei gern das eine oder andere dazulernt, der dürfte das Buch mit Gewinn lesen. Ich würde sogar sagen, dass es ein Buch ist, dass man mehrmals lesen kann und dabei immer etwas neues lernt.