Ich bin ja ein großer Fan vom „Chasing Excellence“ Podcast – 2 Typen unterhalten sich über Sport, Gesundheit, Mindset, „gutes“ Leben. Der eine von ihnen, Ben Bergeron, ist der Selbstoptimierer schlechthin, der jeden morgen um 5.30 aufsteht, Atemübungen macht, stretcht, sich mit Philosophie beschäftigt, alle Mahlzeiten frisch einnimmt, und um 18.00 Uhr zuhause ist, um mit seiner Familie zu essen – aber ganz bestimmt ohne Popcorn, Eis und Netflix… so der Eindruck. Atomic Habits von James Clear erwähnen die beiden immer und immer wieder.
Ich dagegen sitze in Jogginghose auf dem Balkon und schreibe kurz vor knapp eine Buchrezension…denn ohne genug Druck komme ich dieser Tage nicht in die Gänge. Ich scheitere (noch) daran, genug Bücher zu lesen, und mir fallen stündlich Dinge ein, die ich mir doch angewöhnen könnte und dann verwerfe sie, nachdem ich sie eine bis mehrere Wochen von einem Tag zum nächsten als unerledigtes To Do schleppe. Trotzdem ist Atomic Habits für mich ein Augenöffner für menschliches Verhalten: Warum die einen Dinge so unfassbar schnell und unbewusst zur Gewohnheit werden und andere… eben nur mit ein Paar Kniffen. Worum geht es? Es ist einfache Verhaltensbiologie, um nicht zu sagen: Klassische Konditionierung – die häufig automatisch abläuft aber bewusst gemacht auch zu unseren Gunsten funktionieren kann. Und wie das geht, erklärt das James Clear in Atomic Habits.
Der Kern der Sache: Das Warum
Die ganzen kleinen Entscheidungen (nicht die einmaligen, großen) bestimmen wer du in 1, 5 und 10 Jahr sein wirst – oder wo du sein wirst. Das klingt so kryptisch, wenn man an die Zukunft denkt, daher packt mich der Rückblick mit dem Resultat des „Jetzt“ viel mehr: Mein jetziges Wissen ist die Summe meiner Lerngewohnheiten bisher. Meine aktuellen Beziehungen sind das Resultat der vergangenen kleinen Aufmerksamkeiten, Freundlichkeiten, Nachrichten. Meine Selbstliebe ist die Waage aus wieviel innerer Kritiker und wieviel innerer Coach zu Wort gekommen sind. Und wenn ich doch in die Zukunft blicke: „Winners and Losers have the same Goals“, d.h. offensichtlich sind nicht die kühnen Vorhaben die Gamechanger, sondern die Prozesse, die dahinführen. Und das befreit mich auch davon, dass ich erst glücklich sein darf, wenn ich Ziel A oder B erreicht habe. Ich kann mich stattdessen jeden Tag darüber freuen, dass ich einen winzigen Schritt in die richtige Richtung unternommen habe. Entsprechend mag es zielführender zu sein, nicht zu fragen „Was will ich erreichen?“ sondern „Wer (was für eine Person) will ich sein?“ (Outcome vs. Identity based Habits)… auch dazu kann der innere Coach (und die Sprache – mehr dazu in einem separaten Artikel) viel beitragen. Ein Beispiel: Das Ziel „ich will jeden Tag laufen/einen Marathon schaffen“ kann als Identität „Ich bin ein Läufer“ viel mehr dazu beitragen, ob ich es schaffe, etwas zu ändern.
Den Stein ins Rollen bringen: Das Wie
Das menschliche Gedächtnis hat sich entwickelt, weil es die Erfahrungen, die es gemacht hat, nutzt, um möglichst genau die Zukunft vorherzusagen. Also, wenn Urzeit-Kathe auf eine Urzeit-Distel tritt und sich pikst, weiß sie, dass morgen auf eine Distel treten auch piksen wird. Also im einfachsten Sinne: Wenn A dann B. Ähnliches ist wahrscheinlich auch Baby-Kathe passiert und führt dazu, dass die heutige Kathe nicht auf heiße Herdplatten greift. Also, unser Hirn baut aus vielen kleine Erfahrungen unbewusst Automatismen. So hat mein Bewusstsein hat mehr Kapazitäten für andere Aufgaben. Das Hirn lernt ständig dazu und versucht Prozesse ins Unterbewusstsein zu delegieren, und zwar in folgenden 4 Schritten (ihr findet dazu noch 2 lebensnahe Beispiele aus dem Buch und eines von mir):
Beispiel A |
Beispiel B |
Beispiel C |
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Auslöser (A) |
Das Handy pingt |
Ich komme mit meinem Projekt nicht voran |
Ich habe nicht viel geschlafen und muss ein Projekt fertigstellen |
Bedürfnis |
Ich will wissen, warum |
Ich möchte meinen Frust darüber abbauen |
Ich will wach und energiegeladen sein |
Antwort (B) |
Ich nehme mein Handy in die Hand |
Ich öffne Instagram |
Ich trinke einen Kaffee und esse Schokolade |
Belohnung |
Meine Neugier ist befriedigt |
Ich bin abgelenkt |
Das ist ja wohl klar:) |
Konditionierung (wenn A dann B) |
Wenn das Handy pingt greife ich sofort danach |
Wenn ich nicht vorankomme öffne ich Instagram |
Wenn ich müde und gestresst bin will ich Kaffee und Schokolade |
Jedem der vier Schritte – Auslöser, Bedürfnis, Antwort und Belohnung – ist ein eigenes Kapitel gewidmet, indem nicht nur das jeweilige Verhalten auseinandergenommen wird, sondern auch viele lebensnahe Anekdoten und umsetzbare Lösungen und Tricks geschildert werden. Hier das Grobgerüst und ein Anwendungsbeispiel:
Wie ich eine Gewohnheit aufbaue |
Wie ich eine Gewohnheit abbaue |
Beispiel A (Gewohnheit, aufs Handy zu schauen, abbauen) |
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Auslöser |
Mach es offensichtlich |
Mach es unsichtbar |
Das Handy auf lautlos stellen, Mitteilungen ausschalten, Bildschirm zu gewissen Zeiten sperren, Handy in ein anderes Zimmer legen |
Bedürfnis |
Mach es sexy |
Mach es unsexy |
Sieh nach, wieviel Zeit du am Handy verbringst und mach dir klar, was du in der Zeit anderes hättest schaffen können |
Antwort |
Mach es einfach |
Mach es schwierig |
Lösch die App, oder stelle einen weiteren Code zum Öffnen der App ein |
Belohnung |
Mach es befriedigend |
Mach es unbefriedigend |
Für jede Minute auf Social Media muss ich sofort einen Burpee machen |
Bei all dem Potential, das darin liegt, jeden Tag 1% „besser“ zu werden finde ich wichtig, dass man nicht in den totalen Selbstverbesserungswahn verfällt. Ganz ehrlich, wir haben alle genug Stress und Druck.
Wenn ich wie oben geschildert merke, dass ich eine vorgenommene Gewohnheit partout nicht umgesetzt bekomme, muss ich natürlich schauen, ob es an der Methodik liegt …oder ganz einfach das Ziel, 100% am Tag produktiv zu sein, für mich überhaupt nicht erstrebenswert ist.
Vielleicht MUSS ich nicht jeden Morgen meine „Gratitude/wofür ich heute dankbar bin“-Liste erstmal ausfüllen, vielleicht reicht es, wenn NICHT der erste Blick aufs Handy geht (es muss ein analoger Wecker her…), und die ersten 20 Minuten nach dem Aufwachen nur mir und meinen Gedanken (dem inneren Dialog:)) gehören. Zwinge ich mich jeden Tag zu etwas, was mir langfristig garnicht gut tut (muss es jeden Tag joggen sein? Würde es eine andere „Aktivität“ nicht auch tun? Was ist das eigentliche Ziel?)… muss ich umbedingt „meditieren“ oder tut es mir besser, einfach ohne Ablenkung ein Paar Minuten aus dem Fenster zu schauen? Merke ich nach einer Weile, dass ich meinen Tag zu voll gepackt habe und mehr freie, unverplante Zeit brauche, die ich flexibel gestalten kann, je nachdem was im Leben so passiert oder wie mein Tagesbefinden so ist? Ich finde einfach wichtig, dass man bei all der Routine immer flexibel bleibt. Trotzdem: Atomic Habits ist ein tolles, gut strukturiertes Buch mit wahnsinnig viel Lebensweisheit; und zwar nicht nur für ehrgeizige Karrieremenschen oder Athleten, sondern auch oder gerade für die Achtsamen, die ihre Zeit und Aufmerksamkeit gerne besonderen Dingen widmen.
Mein Atomic Habits ist in Englischer Sprache und hat 306 Seiten. Auf Deutsch heißt es: „Die 1%-Methode – Minimale Veränderung, maximale Wirkung“.
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