Das Buch der Woche ist eine Geschichte über die Möglichkeitsräume, die abgelegte Erwartungen schaffen. Festgeschriebene Erwartungen an Bildungswege, die durchbrochen werden können: weil es den Raum dafür gibt. Der Roman “Offene See” ist gefüllt von schweren Themen, wie psychischen Erkrankungen, Suizid, dem zweiten Weltkrieg, Nationalsozialismus, Armut und gleichzeitig voll mit Leichtigkeit und vibrierenden Bildern der britischen Landschaft. In dieser Bildungsgeschichte geht es um freie Entfaltung, neue Lebensentwürfe und eine damals unwirkliche Bildungskarriere. Durch den Zuspruch und Enthusiasmus einer Zufalls- vielleicht eher Schicksalsbekanntschaft. 

Ich verstehe die Geschichte als ein Gegenentwurf zur klassischen Schulkarriere. Sie zeigt was möglich wird, wenn Freiraum zur Entfaltung der Persönlichkeit ohne einen Leistungsanspruch eingeräumt wird. In dieser Erzählung wird der Protagonist frei von Ansprüchen des Staats, von Unternehmen und des sozialen Umfeldes. Ja, manche Ansprüche stellen eine Rahmung dar, doch andere können auch als Eingriff in die Unabhängigkeit oder das Unabhängig-Werden begriffen werden. Die Frage ist, wer die Ansprüche an Bildung und Lernende definieren sollte oder darf. Welche Interessen diese Ansprüche leiten. 

In unserer Gesellschaft wird Bildung ein immer bedeutenderes Gut (Seitenblick auf den Umgang mit Wissen und dichter werdenden Informationen). Bildung, Wissen und Informationen werden auf unterschiedlichsten Ebenen und in verschiedensten Settings diskutiert. Häufig geht es um Wirtschaftlichkeit, Zukunftsfähigkeit und Employability. Das Buch “Offene See” spielt in einer anderen Zeit, eine andere gesellschaftliche Rahmung und setzt sich mit einem anderen Blickwinkel mit Bildung auseinander: was bedeutet und macht Bildung, vielleicht eher die Freiheit zu Lernen, mit einem Individuum? Sie zeigt, was passieren kann, wenn der Raum zur Persönlichkeitsbildung gegeben wird. Es beschreibt den Weg eines Moratoriums. Eine Reise zu sich selbst auf einem frei gewählten Weg.

England im Jahr 1946, kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, der junge Robert verliert sich in der Schule in Tagträumen. Statt dem Unterricht zu folgen, träumt er von der Natur und deren Weite. Dabei versucht er die Gewissheit zu verdrängen, dass er wie alle männlichen Familienmitglieder, wie eigentlich jeder Mann im Dorf, nach der Schule unter Tage arbeiten wird. Im Sommer des letzten Schuljahres möchte er einmal das weite, tosende Meer sehen, bevor er sich den Erwartungen beugt. So beginnt die Wanderung heraus aus dem Bergarbeiter-Dorf, die Küste Yorkshires hinunter. Wo er in einem Cottage einer ungewöhnlichen Frau und ihrem Hund Butler begegnet. Er landet, wie ein Zugvogel, der seinem inneren Kompass folgt. Ab dort folgt er diesem.

Das Buch hat in mir einen unglaublichen Appetit angeregt. Eine der Metaphern im Buch ist der Hunger. Der Hunger auf das Leben und die Welt zu erfahren. Ein Hunger, der sich bahn bricht nach den langen Entbehrungen des Krieges. Hunger nach der Freiheit abseits von Erwartungen. Dulcie, die Frau im Cottage, erkennt diesen Hunger in Robert. Dieser Suche begegnet sie nicht nur mit gutem Essen, sondern auch durch Literatur, Gespräche und Offenheit. Der Funke springt über. Entfacht auch in mir die Lust aufs Lesen, Schreiben und Lernen.

 

Das Buch lag in der Lieblingsbuchhandlung in meinen Händen, als ich auf der Suche nach ‘Comfort Read’ war. “So ein schönes Buch!” entfuhr es mir, als ich das Cover betrachtete. “Ja, eines der schönsten Bücher, das ich seit Langem gelesen habe!” antwortete die Lieblingsbuchhändlerin. Beim Lesen des Buchs habe ich etwas für mich Ungewöhnliches beobachtet. Es war für mich kein Buch, welches ich ‘einfach wegkonsumieren’ konnte. An manchen Stellen forderte es mich: Metaphern und das Zwischen-den-Zeilen ließen mich grübeln und suchen. Es ist eines der wenigen Bücher, dass ich zum Ende hin nicht gierig verschlungen habe, sondern zur Seite legte und mir etwas Zeit zum Wirken-Lassen gab. Ich bin mir sicher ‘Offene See’ ist ein Buch in dem nicht nur der Protagonist wächst, sondern auch die Lesenden wachsen.

‚Offene See‘ von Benjamin Meyers ist im Dumont Verlag erschienen, hat 270 Seiten und meine Taschenbuch-Ausgabe hat 12€ gekostet.