Mit steigender Lebenserfahrung scheint die Ressource Zeit von Menschen mehr und mehr wertgeschätzt zu werden. Anscheinend fehlt einem anfangs einfach Relation und Bewusstsein für Zeit. Was eine, wenn nicht sogar die Ursache für die kindliche und jugendliche Unbeschwertheit sein dürfte. Denn Zeit scheint anfangs unbegrenzt und im Übermaß vorhanden zu sein. Wird man älter, vergeht die Zeit gefühlt immer schneller und die Zeit, die man selbstbestimmt für sich nutzen kann wird immer kostbarer. Für jeden hat der Tag 24 Stunden, jedoch wie das Individuum diese nutzen kann, das ist abhängig vom Hintergrund eines jeden Menschen sehr unterschiedlich. Für Bildung ist Zeit und auch ein gewisses Maß an Muße sehr förderlich.

Vor kurzem unterhielt ich mich mit einer Freundin über die Balance zwischen Arbeits-/Hausarbeitszeit und Freizeit. Dabei kamen wir darauf, wie gut es ist, auf Haushaltsgeräte zurückgreifen zu können, die einem einige Arbeit abnehmen. Auf eine besonders eindrückliche und charmante Art und Weise erzählt Hans Rosling bei einem TED-Talk über die Segnungen des technischen Fortschritts und der Industrialisierung. Rosling erzählt, wie er es miterlebte, wie seine Familie in seiner Kindheit das erste Mal eine Waschmaschine kaufte und wie das letzten Endes auch zu mehr Bildung in seiner Familie führte. Das ist wirklich so brillant erzählt, dass ich empfehle es unbedingt einmal selbst anzuschauen, hier gibt es eine Version mit deutschen Untertiteln.

Wer Zeit bei der Arbeit einspart, hat mehr Zeit für Bildung. Ein eindrucksvolles Beispiel aus der Geschichte ist sicherlich das antike Griechenland, wo aus der Muße ein wichtiger Einfluss der westlichen Philosophie entstand. Damals wurde diese freie Zeit auf Kosten der Sklaven erkauft, welche die lästigen und unangenehmen Arbeiten verrichteten. Durch den technischen Fortschritt gibt es die Möglichkeit, dass sich dieser Traum für die Menschheit auch ohne Sklaven verwirklichen lässt, jedenfalls prinzipiell. Dazu später mehr.

„Die Studiengänge sind optimiert, möglichst schnell sollen Studenten ein Abschlusszeugnis erhalten.“

Als ich damals einen Freund besuchte und wir seinem Vater von unserem Grundstudium erzählten, war dieser ehrlich erstaunt, ja fast erschrocken. Er selbst ist Akademiker und zu der Zeit war die Bologna-Reform noch gar nicht umgesetzt. Mein Freund und ich kannten es ja nicht anders, aber der Vater empfand die Anzahl der Wochenstunden als zu hoch, wie sollte man dabei noch die Möglichkeit haben, auch in andere Gebiete und nach Interesse und Neigung in andere Gebiete reinschnuppern können?

Nur ein paar Jahre später war die Bologna-Reform Realität, statt eines Diploms konnte man nur noch einen Bachelor und einen Master erarbeiten. Die Studiengänge sind optimiert, möglichst schnell sollen Studenten ein Abschlusszeugnis erhalten. Ermöglicht werden soll das auch durch Musterstundenpläne, so dass man Modul um Modul das Studium in Regelstudienzeit absolvieren kann. Eine wesentliche Intention der Bologna-Reform war ausdrücklich die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit (Employability) die auf den Arbeitsmarkt abzielte.

Das alles klingt nicht sehr nach dem Humboldtschen Bildungsideal – ganzheitliche Ausbildung in Künsten und Wissenschaften in Verbindung mit der Studienfachrichtung. Wie passt das zusammen mit dem mündigen, autonomen Individuum, Weltbürgertum und akademischer Freiheit? Wenn man in diesen Zeiten Abstriche bei der persönlichen Entwicklung machen muss, hat man dafür vielleicht Vorteile in anderen Bereichen? Hat man durch die Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft z.B. materielle Vorteile?

Es scheint eher nicht so. Die deutsche Wirtschaft ist sogar in einem hohen Maße unzufrieden mit Bachelor-Absolventen und das auch zunehmend: Untauglich für den Arbeitsmarkt, zu viele und auch die Falschen studierten, zu wenige machten eine Berufsausbildung und die, die sie machten, seien nicht ausbildungsreif. Das sind die hauptsächlichen Vorwürfe, denen man sich als Absolvent derzeit ausgesetzt sieht. Am Ende scheint bei aller gesparten Zeit eben doch etwas zu fehlen.

Dabei haben die Bildungswilligen nach den Spielregeln gespielt und sich dem allgemeinen Mantra der Selbstoptimierung unterworfen. Das beinhaltet einen möglichst geraden Bildungsweg ohne auf dem Weg zum Ausbildungsziel Zeit zu vergeuden.

„1.700.000.000 statistisch erfasste Überstunden machten die Deutschen in 2020 – über die Hälfte davon unbezahlt.“

Auch nach dem Studium oder der Berufsausbildung hört das nicht auf. Verschiedentlich wurde in diesem Blog schon darauf eingegangen, unter dem Stichwort Lebenslanges Lernen ist für ein Bestehen am Arbeitsmarkt kontinuierliche Weiterbildung und Selbstoptimierung eine Grundvoraussetzung(sic!). Wobei man selten hört, dass Arbeitnehmer viel Freizeit hätten. 1.700.000.000 statistisch erfasste Überstunden machten die Deutschen in 2020 – über die Hälfte davon unbezahlt. (Das sind 1,7 Milliarden Stunden oder 71 Millionen Tage, oder 194 Tausend Jahre.) Also gibt es auch hier kaum Zeit oder Muße.

Allerdings scheint frei verfügbare Zeit und Muße ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Der Begriff „(revenge-)bedtime-procrastination“ ist noch relativ neu. Zuerst beschrieben wurde das Phänomen bei jungen Chinesen, die nach dem Schema 996 (von neun bis neun, sechs Tage die Woche) arbeiten. Sie ziehen ihre Freizeit einer längeren Nachtruhe vor und bleiben länger wach – obwohl sie wissen und erleben, dass es ungesund ist, wenig zu schlafen. Nachdem die persönliche Zeit tagsüber fremdbestimmt ist und eigentlich jemand anderes gehört, versucht man so, sich wenigstens ein Bisschen mit selbstbestimmter Freizeit sein eigenes Leben zu gestalten. Das ist eine bewusste Entscheidung, wohlgemerkt trotz der negativen Auswirkungen. Wenn man zu Bedtime-Procrastination recherchiert, dann handeln die Artikel überwiegend davon, dass es eine Störung der Selbstregulierung sei – ich finde es interessant und bemerkenswert, dass die Verantwortung so deutlich externalisiert wird. Mittlerweile ist das Phänomen auch in anderen Ländern bekannt.

„Freizeit wurde und wird schnell als Faulheit und diffamierend als soziale Hängematte abgestempelt.“

In der Einleitung habe ich es schon erwähnt: Der Tag hat für jeden Menschen vierundzwanzig Stunden. Oberflächlich betrachtet ist die Zeit für alle gleich verteilt. Bei näherer Betrachtung wird klar, wie Menschen ihre Zeit nutzen können, müssen, oder auch dürfen, das hängt auch von anderen Faktoren ab. Beispielsweise ist Geld ein limitierender Faktor. Ist in einem Haushalt nicht genug Geld für alltägliche Dinge vorhanden, muss dafür die Ressource Zeit geopfert werden. Wer sich etwa kein Auto leisten kann, der muss für Mobilität auf ÖPNV ausweichen und bei schlechten Anbindungen kann das sehr zeitraubend sein. So steht einem diese Zeit schon nicht mehr zur freien Verfügung.

Freie Zeit wird auch sozial unterschiedlich bewertet. So lässt sich bei Bertrand Russell in seinem Aufsatz „Lob des Müßiggangs“ nachlesen, Der Gedanke, dass die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört. Freizeit wurde und wird schnell als Faulheit und diffamierend als soziale Hängematte abgestempelt. Guido Westerwelle hat in „die Welt“ gesagt, Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern. Zwar sagte Westerwelle nicht explizit, wen er meinte. Durch Westerwelles Hintergrund ist klar, dass eher nicht die oberen zehn Prozent gemeint waren. Aber warum sollten nicht alle Menschen Freizeit haben?

Zur Zeit ist ein schon länger bestehendes Forum im Internet in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. In einem Subreddit namens „Antiwork“ erzählt man sich gegenseitig von seinen Erfahrungen mit schlechten Arbeitsbedingungen und wie man es schaffte, sich davon zu emanzipieren. Das Subreddit steht momentan vor allem dadurch im Rampenlicht, dass Goldman-Sachs die Philosophie und das Motto dieser Community als Bedrohung für die Wirtschaft sieht, die zur Zeit noch auf Niedriglohn-Arbeiter angewiesen ist: Antiwork movement may be long-run risk to labor force participation. Das Motto des Subreddits lautet: Unemployment for all, not just the rich!. Ich finde es interessant, dass es in dem Motto im Grunde genommen um den Aspekt der Freiheit geht, also um Muße und frei verfügbare Zeit.

„Durch die Digitalisierung werden in absehbarer Zukunft auch Menschen arbeitslos, die momentan noch geradezu sinnbildlich für ein gesichertes Einkommen stehen.“

Ist die (Erwerbs-)Arbeit die Ursache für fehlende Muße? Nimmt Arbeit und Arbeitszeit zu? Wenn ja, wieso eigentlich, wenn uns Digitalisierung und Maschinisierung im Vergleich zu früher so viel Arbeit abnehmen oder zumindest abnehmen könnten? Denn Innovationen sollen doch dazu dienen, einem lästige, schwierige oder gefährliche Arbeit abzunehmen. Wie kann es weitergehen, kann man sich in Zukunft noch Zeit für sich selbst nehmen? Wenn die Wirtschaft danach strebt, immer weiter zu rationalisieren und zu automatisieren, wer zahlt dann Steuern? Zumindest eine Antwort auf diese Frage kann ich mit einem Zitat von Frank Rieger geben: Wenn uns Roboter und Algorithmen in der Arbeitswelt ersetzen, sollten sie auch unseren Platz als Steuerzahler einnehmen.

Rieger weiter: Menschen können von Maschinen so intensiv studiert werden, dass ihre Denkleistungen und Verhaltensweisen perfekt emuliert und optimiert werden können. So werden sie besser als die menschlichen Originale. Dadurch können dann nicht nur die Fließbandarbeiter durch Roboter ersetzt werden. Durch die Digitalisierung werden in absehbarer Zukunft auch Menschen arbeitslos, die momentan noch geradezu sinnbildlich für ein gesichertes Einkommen stehen. Anwälte, Buchhalter, Personalentwickler, Marketingmitarbeiter, sogar Journalisten und Wissensvermittler wie Lehrer und Professoren müssen sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft machen. Selbst der Beruf des Managers ist in Gefahr: Auch hier können KIs problemlos nach Algorithmen und Schema F vorgehen.

Rieger sieht grundsätzlich zwei Szenarien. Sollten sich grundlegende Dinge in der von neoliberalen Glaubenssätzen geprägten Welt nicht ändern, werden Menschen mit immer geringeren Löhnen gegen immer billiger arbeitende Automaten konkurrieren müssen. Die Mehrzahl der Menschen kann auf Dauer keinen regulären Lohn mehr beziehen, schon jetzt fällt die Arbeitslosenquote nicht mehr signifikant wenn die Wirtschaft boomt. Und die Mehrzahl der angebotenen Arbeitsplätze machen unsichere und unterbezahlte Bullshitjobs aus. Die verfügbaren Einkommen würden sinken und mit der bisherigen Steuerphilosophie würde das zum sozialen und finanziellen Zusammenbruch von Staat und Gesellschaft führen.

Ein alternatives Szenario beschreibt Rieger mit einem schrittweisen und grundlegenden Umbau von Sozial- und Steuersystemen. Man müsse hin zur indirekten Besteuerung von nichtmenschlicher Arbeit und schließlich zu einer Vergesellschaftung der Automatisierungsdividende. Es geht jedoch gegen die Grundfesten ökonomischer und gesellschaftlicher Dogmen. Rieger spricht von einer positiven Utopie: Es hätte zur Folge, dass man Abkehr nehmen könnte vom Fetisch der (Erwerbs-)Arbeit als alleinigem sinnstiftendem Lebensinhalt und böte nebenbei auch einen Lösungsansatz für die demographische Situation. Also fühl- und messbarer Wohlstand für alle im Lande. Sie bietet also – im Gegensatz zu praktisch allen anderen Szenarien – eine positive Utopie, die langfristige soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität garantiert und die Würde des Menschen wahrt. Am Ende stünde eine finanzielle Absicherung bei sinnvoller Beschäftigung – selbstbestimmte Zeit sowie Muße, auch für Bildung.


EDIT: Pulloutquotes hinzugefügt.


https://www.t-online.de/finanzen/beruf-karriere/beruf/id_73749874/dihk-wirtschaft-haelt-nicht-mehr-viel-von-bachelor-absolventen.html

https://www.zeit.de/studium/2012-10/Langzeit-Bachelor

https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/bachelor-kritik-des-dihk-warum-die-wirtschaft-irrt-a-1030200.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Bologna-Prozess

https://de.wikipedia.org/wiki/Humboldtsches_Bildungsideal

https://www.haufe.de/personal/hr-management/arbeitszeit-ueberstunden-in-deutschland_80_412324.html

https://www.bbc.com/worklife/article/20201123-the-psychology-behind-revenge-bedtime-procrastination

https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstregulation_%28Psychologie%29

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/automatisierungsdividende-fuer-alle-roboter-muessen-unsere-rente-sichern-11754772.html