Warum kann der Perfektionismus nicht einfach mal in der Cafeteria warten?

Eine Zeit lang, vielleicht ist das auch immer noch so, waren Bücher über Bewerbungsstrategien und -techniken sehr populär. Wie es Ratgeber-Büchern oft so zu eigen ist, versprechen sie verzweifelten Seelen Linderung in höchster Not. Und was ist in Deutschland schlimmer, als trotz guter Ausbildung ohne Erwerbsarbeit zu sein? Wenn man sich nur genug anstrengt und perfekte Bewerbungsunterlagen abgibt, dann hat setzt man sich gegen zig andere Bewerber durch und hat den Traumjob mit sechsstelligem Einstiegsgehalt, Dienstwagen und eigenem Büro am Haken.

Diese Bücher beschreiben die ungeschriebenen Regeln, die diesem Prozess der Bewerbung zu Grunde liegen sollen, die ähnlich komplex sind wie die Balzrituale des Blaufußtölpels. Letztere sind zwar nicht so komplex wie man jetzt meinen möchte, aber ich glaube, Ihr bekommt ein Gespür dafür was ich meine.

Diese ungeschriebenen Regeln manifestieren sich nun letztendlich doch in Druckerschwärze und verschriftlichen mögliche Stationen einer Bewerbung und stellen geeignete Reaktionen vor. Ein Klassiker unter den Fragen, die einem gestellt werden konnten, war „Bitte nennen Sie drei Schwächen“. Dann sollte man erst mal genau eine Schwäche nennen. Wäre der potentielle Arbeitgeber damit zufrieden, würde er eventuell auf eine Nachfrage nach weiteren Makeln verzichten oder vergessen und man liefe so nicht Gefahr sich zu verzetteln und unnötig unattraktiv zu geben. Gemäß Protokoll müsste man als erste Schwäche eine möglichst belanglose und damit verzeihbare Schwäche nennen. Etwa „Meine größte Schwäche ist Nussnougatcreme“. Wenn man das überzeugend und sympathisch genug vermittelt hätte, müsste darauf dann gnädiges Nicken und verständnisvolles Lächeln erfolgen. Nussnougatcreme? Ja, Recht hat er, wie soll man diesem süßen Brotaufstrich auch widerstehen können! Puh! Perfekt, alles richtig gemacht! Wo kann ich unterschreiben, um morgen mein unbezahltes Praktikum antreten zu dürfen?

Apropos „perfekt“: Eine weitere Antwort nach Lehrbuch war „Meine größte Schwäche? Perfektionismus!“ Ich weiß aus sicherer Quelle, wer es wagte, den Sinn dieser Null-Aussagen-Choreographie anzuzweifeln, dem wurde schnell unterstellt, ein leistungsunwilliger Querulant und Low-Performer zu sein. Meine Lieblingsanekdote zu dem Thema kann möglicherweise helfen, Trost zu spenden, nicht ohne die Hoffnung, dass diese Ära der selben Vergangenheit angehört, wie der, in der man unverheiratete Damen mit „Fräulein“ angesprochen hat. Ein Marktführer in dieser Bewerbungsmaschinerie-Befeuererungsliteratur, also ein ebensolcher Herausgeber von Bewerbungsbüchern, ist nämlich selbst einmal in die Verlegenheit geraten, eine Stelle besetzen zu müssen. Nach einem Inserat soll dieser Herausgeber buchstäblich waschkörbeweise Bewerbungen erhalten haben, die ausnahmslos alle nach dem von ihnen propagiertem Muster und mehr oder weniger identisch verfasst worden waren. Eine Vorauswahl geeigneter Bewerber war so praktisch unmöglich. Wer immer der Meinung war, Westfalen könnten das Konzept der Ironie schlichtweg nicht begreifen, den möchte ich hier Lügen strafen – denn diese Ironie freut mich dermaßen, dass ich mich immer noch wohlig daran wärme wie an einem Lagerfeuer. Auf welches ich gerne noch meine (natürlich viel zu langen) Lebensläufe nachlege, auf dass diese Flammen noch lange brennen mögen.

Wenn man die menschenverachtenden Praktiken der Wirtschaft mal beiseite lässt, ist es doch interessant, sich den Perfektionismus mal genauer anzusehen. Was für ein Verständnis versteckt sich hinter der vermeintlich harmlosen Schwäche des Perfektionismus? Dass der Perfektionist die Arbeit nicht eher ruhen lassen kann, bis diese Ergebnisse perfekt erreicht sind. Und zwar zur Not auch mit unbezahlten Überstunden, denn sonst wäre es keine Schwäche. Angenommen, diese Vorstellung über den Bewerber existierte tatsächlich, dann sympathisiert der Vorteilnehmer mit der Idee, dass sich jemand selbst ausbeutet. Oder es ist ihm egal oder nimmt es billigend in Kauf. Interessant finde ich, dass die Idee vom Perfektionismus als Schwäche zumindest unbewusst im Raum wabert und dem Vorteilnehmer tendenziell stärker bewusst ist, als dem Bewerber selbst. Denn das Framing des Ratgebers ist ja, sag ruhig „Perfektionismus“, das ist keine echte Schwäche. Damit signalisierst du im Zweifelsfall, dass du bereit bist, dich für den Arbeitgeber krumm zu machen. Dass ein Arbeitgeber daran möglicherweise Gefallen fände, ist wenig überraschend.

Aber geht die Rechnung denn auf? Ist Perfektionismus eine Schwäche, die sich ausbeuten lässt? Im Extremfall ist ein Perfektionist erschöpft und frustriert, denn Perfektion lässt sich nie erreichen. Er fühlt sich besorgt und wertlos. Der empfundene mangelnde Selbstwert bringt die Menschen in einen Teufelskreis da sie versuchen, durch immer mehr Anstrengungen und Leistungen weiter sinkenden Selbstwert zu bekämpfen. Und bringen sich dadurch weiter an die Leistungsgrenzen, das bedeutet höchsten Einsatz ohne einen Gewinn. Dies kann keine nachhaltige Strategie sein. Ich denke, in einem solchen Fall ist es ratsam, sich Hilfe zu suchen.

Aber auch in geringerem Maße kann Perfektionismus zumindest lästig sein. Wenn man das Gefühl hat, es lohnt sich gar nicht erst, ein neues Hobby anzufangen, weil man das bestimmt sowieso nicht gut kann. Oder dass man, wenn man etwas versucht, hart mit sich ins Gericht geht, weil das Ergebnis nicht seinen Ansprüchen genügt. Dazu gibt es in Kürze eine Buchvorstellung!

Am schlimmsten finde ich es, wenn ich einige Dinge eine Zeit lang etwas nicht üben konnte und dann wieder auf einem früheren Stand anfangen muss. Da habe ich immer noch in Erinnerung, dass ich da schon mal weiter war.

Ich möchte abschließend gerne zumindest noch ein paar Tipps geben, wie man mit dem Perfektionismus im Hobby-Bereich umgehen kann.

Ein erster sinnvoller Schritt könnte sein, den Perfektionismus wahrzunehmen. Er will uns vor Misserfolgen schützen. Aber da es bei einem Hobby nicht in erster Linie um Erfolg geht sondern um Spaß, kann der Perfektionismus wirklich in der Cafeteria warten und uns unseren Spaß gönnen.

Dann kann man sich fragen, was genau Erfolg ausmachen soll. Bob Ross, der im angelsächsischen TV legendäre Künstler der Millionen Menschen das Malen nahegebracht haben dürfte, spricht zum Beispiel davon, dass es so etwas wie Fehler gar nicht gibt.

Zumindest mich überzeugt das mit den Fehlern leider nicht immer und wenn es euch ähnlich geht, dann habe ich noch einen weiteren Tipp: Falls Ihr nicht zufrieden mit Euch seid, dann denkt daran, dass das zum Prozess des Fortschritts dazu gehört. John Muir Laws ist ein „Nature Journalist“ (jemand der Beobachtungen in der Natur in ein Buch zeichnet) und bringt auch anderen das Skizzieren und Zeichnen bei. Er spricht von „Pencil Miles“ also Bleistift-Meilen die man absolvieren muss um besser zu werden.
Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Schlecht sein ist der erste Schritt dazu, in etwas einigermaßen gut zu sein.