Kurz vorab: Ableismus ist Diskriminierung bzw. Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten. Behinderte, dünne, dicke, chronisch kranke, aber auch schwangere oder alte Menschen und viele andere erleben dies zum Beispiel im Sport, auf der Arbeit und überall sonst.

Wir sind eine sehr leistungsgetriebene Gesellschaft, und nirgends wird es sichtbarer als im Sport. Wer hat den schönsten Körper, wer kann am schnellsten Laufen, wer die meisten Wiederholungen oder das schwerste Gewicht stemmen? Es gibt solche toxischen Umgebungen, aber es gibt zum Glück viele Gegenbeispiele.

Ich unterrichte Selbstverteidigung und CrossFit in sehr, sehr heterogenen Gruppen: Junge Einsteiger, alte Hasen, Leute, die schon Jahre keinen Sport gemacht haben, nach einer Pause oder Verletzung wieder einsteigen, die, die an Wettkämpfen teilnehmen oder ein ehrgeiziges Ziel verfolgen. 16 und 72-Jährige trainieren zusammen, Männer und Frauen und alle dazwischen.

Wie geht das, dass jede teilnehmende Person stärker und schlauer* (und auch verschwitzter, ausgepowerter und glücklicher) nach Hause geht? Wie kann ich diese Stunde CrossFit oder diese Stunde Krav Maga für alle im Raum „die geilste Stunde deines Tages“ machen und dafür sorgen, dass jedes Individuum für sich persönlich am meisten mitnimmt und jede Leistung für sich steht?

Am Beispiel einer CrossFit-Stunde lässt es sich vielleicht am einfachsten beschreiben: Das Programm des Tages ist für alle das Gleiche – aber die Anforderung ist für die jeweilige Fitness angepasst: Ist doch klar, oder? Jeder startet schließlich von einem anderen Level. Wenn ich alle 100 kg heben lasse geht die eine Hälfte mit kaputtem Rücken, und die andere Hälfte unterfordert Heim und keiner kommt wieder.**

Nehmen wir an das Programm des Tages ist „Cindy“: 5 Klimmzüge, 10 Liegestütze, 15 Kniebeugen – und davon so viel Runden wie möglich in 20 Minuten. Kannst du keine Klimmzüge? Kein Problem, du kannst ein Gummiseil zur Hilfe nehmen oder auch hochspringen und die so langsam herunterlassen, wie du kannst. Du hast Knieprobleme? Je nach spezifischen Problem machst du die Kniebeugen geführt oder zum Beispiel auf einer Bank. Du hast einen Arm statt zwei? Wir finden eine Lösung, wie wir die gleichen Muskeln ansprechen wie bei den anderen – jede Person bekommt von mir das Setting, indem sie so viel leisten kann, wie sie kann! Nach 20 Minuten sind alle im Raum gleich verschwitzt und happy und high-fiven sich für ihre Leistung. Hans hat 8 Runden, Petra 10 und Kim 9, aber macht das gerade einen Unterschied, wer am meisten Runden hat? Nö, schließlich habe ich gesehen, dass alle ihr Bestes gegeben haben daher interessiert mich nur, dass sie da waren*** – dass alle gemeinsam Spaß hatten, geschwitzt haben und das Abendessen jetzt besonders gut schmeckt. Wichtig ist nur, dass jede einzelne Person wenn sie möchte ihre Tagesleistung mit ihrem Cindy-Ergebnis zum Beispiel von letztem Jahr vergleichen kann und Fortschritte so sichtbar und messbar werden (ja es gibt sie, die Fitness-KPIs).

Im Krav Maga gehe ich sogar noch mehr auf die individuellen Körper und Fähigkeiten ein, denn jede Person muss in der Situation die für sich richtigen Entscheidungen treffen lernen.

Auch hier ist das Ziel und das Programm des jeweiligen Trainings wieder für alle das Gleiche: Möglichst unbeschadet zu bestehen, zu flüchten, ggf. noch anderen zu helfen bzw. Hilfe zu holen. Nehmen wir an es geht um einen Messerangriff im Stand. Sascha ist schon eine Weile dabei, blockt Achims Attacke zusammen mit einem Konter, tritt augenblicklich in seinen Tiefschutz und läuft weg während er verdutzt dreinblickt****. Jetzt ist Achim dran: Er hat eine alte Knieverletzung, aber der Tritt am Ende sitzt und er weiß die Zeit reicht auch für ihn zu flüchten, da er gelernt hat sich immer seiner Umgebung bewusst zu sein: Er möchte sich nicht auf einen Sprint mit Sascha einlassen, muss er auch nicht – da er in einen Laden oder ein Auto springt und die Tür schließt. Sein taktisches Verhalten hilft ihm hier. Felix sitzt im Rollstuhl und bekommt von mir einen völlig anderen Plan: Er kann Sascha vielleicht nicht treten und weglaufen, aber er kann sie nach dem Konter und der Sicherung des Messers festhalten, seinen Rollstuhl nutzen (der tut mehr weh als eine Faust oder Knie zum Gesicht – ich spreche aus Erfahrung) und um Hilfe rufen – Felix ist es gewöhnt, seine Umgebung mit allen Bordsteinen, Unebenheiten, Treppen und schiefen Ebenen zu scannen und nutzt diese geschickt. Sabine, die gehörlos ist, sieht in einer winzigen Augenbewegung ihres Angreifers, dass ein Komplize hinter ihr steht. Blitzschnell reißt sie den Angreifer herum und nutzt ihn als Schutzschild.

Ich gehe hier nicht weiter auf Techniken oder Prinzipien ein – aber ich denke es wird klar, dass jeder Mensch anders ist und damit auch die Lösung eine individuell andere ist. Für mich als Krav Maga Trainerin oder CrossFit-Coach heißt das, dass ich mehr Arbeit in meine Ausbildung und jedes Training stecke, da eben nicht gilt „One size fits all“. Hätte ich 20 gleich junge, gleich starke Schüler_innen bräuchte ich mir die Mühe nicht machen. Aber: Habe ich als Trainerin viel daran geleistet, dass sie stark sind? Ich persönlich bin stolz und glücklich, dass bei mir junge, alte, rollende, laufende, hörende, nicht-hörende Menschen miteinander arbeiten, und an dieser Herausforderung wachse ich jeden Tag (unsere Mitglieder_innen im übrigen auch). Seien wir ehrlich: Gerade im Kampfsport wird Menschen schnell gesagt, dass man hier nichts für sie tun könne oder ihnen wird das Gefühl gegeben, sie seien nicht willkommen (dick, alt, behindert? Da bist du bei uns falsch). Was sagt das über diese Schulen und deren Trainer_innen? Ich lasse das hier mal so stehen.

Ganz ehrlich, ist es in unserem Alltag nicht immer so, dass wir alle unterschiedlich starten bzw. die Menschen abholen wollen, wo sie stehen? Wir mögen auf der Arbeit vielleicht ähnliche Aufgaben erledigen oder Pflichten haben wie unsere Kolleg_innen, aber die Zeit bei der Firma, die Erfahrung in der Branche, die Ausbildung, und selbst die Tagesverfassung in der wir ins Büro kommen ist doch bei jedem Menschen an jedem Tag anders: Jeder hat mal einen schlechten Tag, sich mit dem/der Partner_in gezofft, macht sich sorgen um das kranke Haustier. Oft wissen wir das gar nicht von den anderen, und nicht alle „Umstände“ sind sichtbar. Können wir, wie Luise beim Sketchnote-Barcamp sagte, nicht wohlwollender mit unseren Kolleg_innen, Dienstleistern, Schüler_innen umgehen? Wer weiß, was sie hinter sich haben. Wer weiß, was für wertvolle Fähigkeiten sich daraus ableiten!

Und was sagt uns das nun für Lehrer_innen, Dienstleister_innen oder Führungskräfte? Je diverser meine Klasse und mein Team, desto kreativer und unterschiedlicher werden die Lösungen, die ich anbieten kann. Desto mehr ungeahnte Potentiale und Skills schlummern in meinen eigenen Reihen. Dass diverse Teams übrigens lukrativer sind lest ihr hier. Zum Glück zeigt sich in einigen Stellenbeschreibungen von Firmen schon ein Umdenken und sie kommen weg vom Defizit- oder Kompetenz- und hin zum Ressourcenorientierten Arbeiten.

Ich jedenfalls würde jeden Tag ein Team aus unterschiedlichsten Menschen über einer gleichförmigen Masse mit gleichen Lebensläufen und Körpern wählen und stolz darüber sein, was das über mich als Führungskraft und das Unternehmen mit seiner Kreativität und Lösungsansätzen sagt.

Disclaimer: Ich mache hier vielleicht wieder ein riesiges Fass auf, daher ich freue mich über Ergänzungen, Kommentare und Anmerkungen. Ein weiteres großes Thema, nämlich wie ich zum Beispiel mit diversen Kenntnis- und Wissensständen im Unternehmen umgehe und ein für alle gutes Arbeitsklima schaffe wird in einem weiteren Artikel (oder weiteren Artikeln?) vertieft werden. Wir haben dazu viel zu sagen und wollen den Austausch mit euch!

 

*Was? Stärker okay aber schlauer nach Sport? Als Selbstverteidigungstrainerin habe ich den Anspruch, dass du schon nach dem ersten Probetraining ein wenig sicherer nach Hause gehst… weil du zum Beispiel Hemmschwellen zu Brüllen, Schlagen und Treten abgebaut hast, weil es Klick gemacht hat und du dich nun taktischer im Raum und in der Öffentlichkeit bewegst. Das Selbstbewusstsein über diese Fähigkeiten ändert deine Ausstrahlung. Im CrossFit ist das Ziel, dass du einen Schritt hin zu einem gesünderen Leben machst, was dich schlussendlich natürlich stärker macht. Warum sich auch das auf den mentalen Muskel auswirkt, habe ich hier beschrieben.

**Ich wäre eine schlechte Unternehmerin wenn ich das zulassen würde – ich will, dass sie wiederkommen und eine befreundete Person mitbringen und anderen davon erzählen, weil es so gut war!

***Und zwar nach einem langen Arbeitstag oder einer kurzen Nacht – wer weiß? Ich jedenfalls erkenne es an.

****in einem realen Setting würde er nicht verdutzt dreinblicken sondern relativ schmerzverzerrt.